Zur Geschichte und Aktualität der Axiologie

Yvanka B. Raynova

 

Dass heute ständig von Werten die Rede ist, ändert nichts an der Tatsache, dass wenige wissen was unter Axiologie zu verstehen ist. Schon das Wort Axiologie versetzt so manche ins Staunen und bedarf zumindest der etymologischen Wortklärung: Axiologie kommt vom griechischen Wort axia (αξια, Wert) und bedeutet im weitesten Sinne Wertlehre oder Werttheorie. Wer zu Wörterbüchern und Enzyklopädien greift, um sich ausführlicher zu informieren, wird auf knappe, manchmal sogar widersprüchliche und irreführende Informationen stoßen. Manche behaupten, es sei Paul Lapie, der durch sein Werk Logique de la volonté (1902) das Wort Axiologie in Umlauf gebracht habe. Aus der Encyclopedia Britannica erfährt man, dass es Eduard von Hartmann war, der in Grundriss der Axiologie (1909) "first used the term in a title" ("Axiology." from Encyclopædia Britannica Deluxe Edition 2004 CD-ROM. Copyright © 1994-2004). In der Wikipedia wird wiederum behauptet: "Der Terminus 'Axiologie' geht auf Eduard von Hartmann zurück, der den Ausdruck zuerst 1887 in seiner Philosophie des Schönen gebrauchte" [https://de.wikipedia.org/wiki/Axiologie_(Philosophie)]. Das stimmt jedoch nicht, denn Hartmann verwendet den Begriff "Axiologie" schon 1877 in seinem Buch "Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus in ihrer Stellung zu den philosophischen Aufgaben der Gegenwart". Es ist schwer zu sagen wer, wo und wann zum ersten Mal das Wort Axiologie eingeführt hat, Tatsache ist jedoch, dass Eduard von Hartmann sein Konzept der Axiologie speziell und vielleicht am ausführlichsten in "L'axiologie et ses divisions" (Revue de la France et de l'étranger 1890, juillet - décembre, vol. XXX, pp. 466-479) ausgearbeitet hat. 

Wenn unter Axiologie im weitesten Sinne Wertlehre verstanden wird (z.B. die Lehre vom Guten, vom Gerechten usw.), so kann man mit Oskar Kraus annehmen, dass diese in der altgriechischen Philosophie entstanden ist. Nach der Absonderung der Wissenschaften von der Philosophie in der Neuzeit sind auch nichtphilosophische Wertlehren entstanden, wie z.B. die ökonomischen Werttheorien des 17. (W. Petty, R. Cantillon, N. Barbon, J. Law) und des 18. Jahrhunderts (A. Smith, D. Ricardo). Mit Axiologie im engen Sinn bezeichnet man jedoch denjenigen Bereich der Philosophie, der die Werte zum Forschungsgegenstand hat und damit die Werttheorie zu einer speziellen philosophischen Disziplin erhebt. Die Ansätze zu dieser speziellen Disziplin, die auch Wertphilosophie genannt wird, entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts, also vor dem Konzept der Axiologie selbst. Windelband beschreibt dies folgendermaßen: "Seit Lotze den Begriff des Wertes energisch hervorgehoben und ihn an die Spitze auch der Logik und der Metaphysik gestellt hat, regen sich vielfach die Ansätze zu einer 'Theorie der Werte' als einer neuen Art von philosophischer Grundwissenschaft" (Windelband, Geschichte der Philosophie, in: Digitale Bibliothek, Band 3, S. 6797). Zu den bedeutendsten Werttheorien des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts gehören die Werttheorien des teleologischen Idealismus (R. H. Lotze), des Neukantianismus (W. Windelband, H. Rickert), der Lebensphilosophie (F. Nietzsche), des Neovitalismus (E. von Hartmann), der österreichischen Wertphilosophie (F. Brentano, A. Meinong, Chr. von Ehrenfels), der Phänomenologie (E. Husserl, M. Scheler, N. Hartmann), des britischen Intuitivismus (G. E. Moore, H. Rashdall, W. D. Ross), des Pragmatismus (W. James, J. Dewey, C. I. Lewis) und des Neorealismus (R. B. Perry). 

Mit dem Konzept von Axiologie im engen Sinn taucht die Frage auf, wie sie denn nun von den anderen Sachgebieten der Philosophie und den anderen Wissenschaften abzugrenzen sei. Windelband definiert die Philosophie schlechthin als "die kritische Wissenschaft von den allgemein gültigen Werten" und unterscheidet sie von den exakten Wissenschaften, die Gesetze feststellen oder einzelne Ereignisse erforschen und systematisieren. So gesehen bildet die Axiologie die differentia specifica und den eigentlichen Gegenstand der Philosophie. Manche Denker verstehen die Werttheorie als eine Psychologie der Wertungen (Ehrenfels), andere hingegen als einen Teil der Moral (Lapie), andere wiederum sind der Meinung, dass die Axiologie als strenge Werttheorie eine Analogie zur Logik sei und von der Praxeologie als Lehre vom Handeln unterschieden werden müsse (Scheler). 

Das Institut für Axiologische Forschungen vertritt die Auffassung, dass die Axiologie ein grundlegendes Sachgebiet der Philosophie darstellt, welches: 

(a.) fast alle Bereiche der Philosophie durchdringt: Logik, Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik und Kulturphilosophie, Religionsphilosophie, soziale und politische Philosophie, Philosophie des Rechts und der Ökonomie; 

(b.) eine Art Brücke zwischen der theoretischen und der praktischen Seite der Philosophie bildet bzw. zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung;

(c.) in Zusammenhang mit anderen Gebieten des Wissens und der Kultur steht und in diesem Sinne nicht nur einen philosophischen, sondern auch einen interdisziplinären Zugang erfordert. 

Dass die Axiologie es sowohl mit der theoretischen als auch mit der praktischen Philosophie zu tun hat, wird dadurch klar, dass Werte weder reine Urteile, noch reine Handlungsmotive sind. Paul Ricœur hat dies treffend formuliert, als er hervorhob, dass die Axiologie aufgefordert sei "einen Weg zu suchen zwischen dem Apriorismus der Werte, der den enthüllenden und kreativen Charakter der Freiheit unterschätzt, und dem radikalen Aposteriorismus, der die Werte zu Projektionen der Wahl reduziert" (Gabriel Marcel et Karl Jaspers, Aubier, 1947, p. 248). Die Funktion der Werte ist komplex, sie wirken sowohl weltanschaulich, als auch regulativ und identitätsstiftend: Werte bilden unsere Weltanschauung, regulieren unser Denken und Handeln, sie prägen die Identität des Individuums und der Gemeinschaft. Dies erklärt warum Wertkrisen zu Identitätskrisen führen, warum Wertekonflikte zu Kriegen und Ideologiekämpfen ausarten. 

Seit ihrem Entstehen hat die Axiologie nichts an Aktualität verloren, gewechselt haben lediglich die Akzente: die ursprüngliche Auseinandersetzung der Werttheorien mit den Wissenschaften hat zunehmend einer Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Politik Platz gemacht. Es sei hier nur kurz an diese geschichtliche Entwicklung erinnert. 

Die Axiologie als eigene philosophische Disziplin entstand im 19. Jahrhundert zu einem Zeitpunkt des Niedergangs der großen Philosophiesysteme und der Krise des spekulativen Denkens. Ihre erste Aufgabe bestand darin, in der neuen Aufteilung des Wissens ihren Platz zu finden, was in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften geschah. Die Situation änderte sich durch die beiden Weltkriege, deren Monstrosität Menschlichkeit, Vernunft und Werte mehr denn je in Frage stellte. Die Axiologie erhielt nun eine sozial-politische Wendung, die während des kalten Krieges – des Wettkampfs der "zwei Wertsysteme" – oft ideologische Züge annahm. Der Kampf zwischen der "marxistischen" und der "bürgerlichen" Axiologie, der am XII Weltkongress der Fédération Internationale des Societes de Philosophie (FISP) 1958 begann, dauerte fast drei Jahrzehnte. Der Zusammenbruch des "Kommunismus" und der damit verbundenen Ideologie brachte manche PhilosophInnen in eine tiefe Identitätskrise. Die Ideologie als "große Erzählung" war nicht nur unglaubwürdig geworden, es wurde auch klar, dass Theorien, die zu Legitimationsdiskursen abgleiten deformierte Formen des Wissens hervorbringen. Überlegungen, wie ein demokratisches Zusammenleben in einer erweiterten Europäischen Gemeinschaft garantiert werden könne, führten in den 90ern Jahren zu Diskussionen über die "Europäischen Werte" und darüber ob Europa eine Wertegemeinschaft oder eine Rechtsordnung sein soll. Ausgelöst wurden die Debatten insbesondere durch die "Charta der Europäischen Identität" (1995), die in einer revidierten Version als "Charta der Grundrechte der Union" im Entwurf der Europäischen Verfassung (2003) enthalten ist. 

Mit der Europäischen Erweiterung, dem internationalen Terrorismus und der Entstehung einer "neuen Weltordnung" scheint die axiologische Problematik wie nie zuvor an Aktualität gewonnen zu haben. Die Unklarheit darüber, wie Werte zu verstehen sind, erhöht den Bedarf einer hermeneutischen Auseinandersetzung mit dem Wesen, der Entstehung und dem historischen Wandel von Werten. Diesem zentralen Vorhaben widmet sich das Institut für Axiologische Forschungen, welches als Europäisches Institut für advanced studies im Bereich der philosophischen und interdisziplinären Werteforschung gegründet wurde.

 

Copyright © 2003, 2004, 2006 Yvanka B. Raynova (Institut für Axiologische Forschungen). All Rights Reserved. 

NB. Dieser Text ist Teil der Broschüre, die das Institut für Axiologische Forschungen vorstellt. Er ist urheberrechtlich geschützt und darf nicht ohne Verweis auf die Originalquelle benutzt werden. Zitat in MLA Format: Raynova, Yvanka B. "Zur Geschichte und Aktualität der Axiologie". Institut für Axiologische Forschungen, Wien, 2003, https://www.iaf.ac.at/index.php/was-ist-axiologie. Accessed Tag, Monat, Jahr. Zitat in APA Format: Raynova, Y. B. (2003). "Zur Geschichte und Aktualität der Axiologie". Institut für Axiologische Forschungen. https://www.iaf.ac.at/index.php/was-ist-axiologie